Urs Strässle

Der Brugger Kunstmaler Willi Helbling

Im Hebst 1981 veranstaltete die Galerie Brugg-Lauffohr eine Werkausstellung, in welcher Willi Helbling nach genauem Konzept arrangierte und zusammenstellte, was sein in langen Jahren gewachsenes künstlerisches Oeuvre ausmacht: die Blumenbilder, die eine Mitte zwischen realistischer Wiedergabe des Objekts und abstrahierender Verfremdung innehalten, die mit oft ungewöhnlichen Farbzusammenstellungen zum Leuchten gebrachten Sonnenblumen, Malven, Türkenbund oder Rittersporn; die Landschaften, natürlich wirkend, bekannt und fremd zugleich, komponiert aus farbigen Flächen, aus quasi tektonischen Urelementen; die Tierdarstellungen, die Gänsebilder zum Beispiel, elegant hingezeichnete und mit grafischen Bildstrukturen durchsetzte Körper. Natur als Erscheinung und Gesetz in einem. Inmitten dieser Bilder fand sich eine Art Selbstporträt «Warten auf den Frühling» betitelt, das sich in seiner näheren Umgebung – blauer Rittersporn, rote Pfingstrosen – fremd ausnahm, kalt und distanziert wirkte, das sich aber bei genauerem Hinsehen als Schlüssel zum ausgestellten Werk Helblings erwies. Ein Mensch, dessen Gestalt und Gesicht keine individuellen Züge tragen und vom Maler in der Art konstruktiver Malerei in pastellfarbene Flachen aufgeteilt wurden, steht am Fenster und betrachtet stumm die noch nicht erwachte Natur, das noch gefrorene Leben: Mensch und Natur im Gleichklang, beide im Zustand des Noch-nicht, beide im Zwischenland der Hoffnung. So mag der Maler Willi Helbling (seine verschiedenen Fensterbilder scheinen dies zu belegen), so mag irgendein Mensch am Fenster stehen und warten, halb unsichtbar, geschützt im Winkel, wissend, dass draussen schon fiel keimt, was später sein Leben, seine Kunst ausmachen wird: der Maler als «Organ» der Natur, deren Gesetz er in seinen Bildern enthüllt. Mir wurde dieses Bild, dieser gemalte Fensterblick, warme, rötlich-braune Farben im Bildhintergrund, kalte, blaugrüne Tone im Bild Vordergrund, zum doppelten Gleichnis: Es kennzeichnet den Schaffensprozess des Künstlers, den Umstand genau genommen, dass er in einzelnen seiner Werke sich selbst oder die Bedingungen seines Schattens zum Gegenstand macht, sich zur Darstellung und auf den Begriff bringt. Im besonderen ein Gleichnis für das Werk Willi Helblings: als Maler ist er einer, der auf den Grund sieht, der durch Blumen, Tiere und Landschaften sozusagen hindurchsieht als waren sie ein Schleier, hinter dem das Eigentliche verborgen liegt. Und Helbling malt dies alles so, dass das Hintergründige im Vordergründigen, das Innere im Äusseren, das Gesetz in der Form sichtbar wird. So sind, um wieder von diesem Bild zu sprechen, Bildvorder- und Bildhintergrund aufeinander bezogen; Innen- und Aussenwelt durchdringen sich, ihr mögliches Gegeneinander wird dadurch verhindert, dass der Maler das Gemeinsame hervorhebt, und das liegt in der Form, genauer in der Struktur; Maler und Gegenstand, Geschöpfe sie beide. Die geometrischen Grundmuster, die in vielen Bildern Helblings auftreten, Kuben und Rhomben vor allem, schaffen immer wieder dynamische Übergänge von Bildebene zu Bildebene; sie sind quasi die Grammatik der Bildsprache Helblings. Zwischen den farbigen Flächen des Bildhintergrundes und den Gegenständen des Bildvordergrundes entstehen dynamische Beziehungen, entsteht Bewegung. Und das heisst: Wissen um Werden und Vergehen, Wissen um die Dauer im Wandel, und darin um die Hoffnung. Und da liegt die Bedeutung dieses einen Bildes in Bezug auf das künstlerische Werk Willi Helblings; Seine Figur richtet ihren Blick auf latentes Leben, das der Maler, zweiter Schöpfer, auf vielen seiner Bilder zur Entfaltung bringt.  Aber dies ist nicht irgendein Blick, sondern der, welcher in der jeweiligen Erscheinung, in der Blume, dem Baum, der Landschaft das Typische erfasst, das in der Erscheinung verborgen ist. Und dass dies für Helbling wichtig ist, zeigt sich darin, dass der Bildhintergrund den Vordergrund, dass die Flächengliederung das Motiv manchmal beinahe zudeckt oder auflöst. «Warten auf den Frühling» verweist auf die Daseinsform des Malers Willi Helbling und enthält gleichzeitig eine Art Real-Gleichnis des Lebens. Das Dargestellte steht für Sehnsucht, Vorwegnahme, Abstand, für noch währende Verhülltheit. Das sind Bestimmungen im Betrachter wie im Betrachteten, der Betrachter findet sich selbst im Bild, das Gleichnis schafft den Übergang zur Gleichung.

Ein anderer Zugang zum Bild «Warten auf den Frühling» bietet sich freilich von selber an: Das Bild betrifft, wie viele Bilder Helblings, die unmittelbare Umwelt des Künstlers, Atelier, Haus und Garten an der Aarauerstrasse in Brugg. Dort findet der Maler immer wieder Motive für sein Schaffen, dort werden aus alltäglichen Begebenheiten, aus zufälligen Begegnungen – Farbtöne einer Blume mögen auffallen, die Bewegung einer Katze mag überraschen – Anregungen für Skizzen, Zeichnungen oder Acrylbilder, die im Atelier entstehen. Helbling malt, was vor seiner Tür liegt: die Blumen seines Gartens, die Gänse, welche den Besucher mit aufgeregtem Geschnatter begrüssen, die nähere Umgebung, die Hochebenen des Juras, die Täler der hiesigen Flusslandschaft. Nichts Spektakuläres, nichts Ausgesuchtes, sondern das Nahe, das Vertraute, das, was jeden Tag in den Blick fällt. Für den Aussenstehenden mag das etwas erstaunlich sein, denn die Wohnlage Helblings ist kein Ort kontemplativer Ruhe, keine unberührte Idylle. Vor dem Haus führt die stark frequentierte Kantonsstrasse Brugg-Aarau vorbei, seitlich und dahinter wird es durch industrielle Bauten «eingerahmt», so dass Haus, Garten und Atelier wie ein Relikt wirken, wie eine trotzig behauptete Idylle, in der einer, der gerne Abstand hält und die Ungestörtheit liebt, hartnäckig Malvenbilder malt und so der trostlos wirkenden Verstädterung seiner näheren Umgebung die einfache und klare Schönheit der Natur entgegenhält.

Als Willi Helbling 1954 sein Atelier, das 1957 zum Haus erweitert und 1964 und 1976 ausgebaut wurde, an der Aarauerstrasse errichtete, da mochte in der Wahl dieses Wohnortes ein Bekenntnis zur Natur, zur Arbeit in relativer Distanz zur Mitwelt und auch zur Unabhängigkeit, zum Einzelgaengertum eines Künstlers liegen, dem die Selbständigkeit, das sogenannte freie Schaffen, nicht leicht gemacht wurde und der auf Anerkennung auch in Brugg lange warten musste. Willi Helbling, 1920 in Brugg geboren, besuchte nach der Bezirksschule während fünf Jahren die Kunstgewerbeschule Zürich, die Fachklasse für Grafik genau genommen, und erhielt seine Ausbildung von Lehrern wie Ernst Gubler, Heinrich Müller und Ernst Keller. Es versteht sich heute, wo jedes Kind weiss, dass in Zeiten wirtschaftlicher Krisen zuerst am Werbebudget gespart wird, von selbst, dass die Berufsaussichten für gelernte Grafiker und Kunstmaler in den Kriegs- und Nachkriegsjahren schlecht waren. Helbling hat sich mit Gelegenheitsarbeiten, über Wasser zu halten versucht, hat Signete für Brugger Firmen geschaffen, Fahnen für Vereine und Plakate für Vereinsanlässe gestaltet, daneben Theaterkulissen gezimmert, sich als Schaufensterdekorateur betätigt und Etiketten für Hustensirup und Kraftwein entworfen. Hin und wieder hat er in diesen Jahren auch schwarz gearbeitet und sich als Flachmaler betätigt. Was für den künftigen Kunstmaler blieb: genaue Kenntnis der verschiedensten Materialien, handwerkliche Fertigkeiten und Erfahrungen mit Menschen verschiedener Herkunft. Was den Menschen Helbling vielleicht bis heute prägt: Bescheidenheit, Einfachheit und innere Distanz gegenüber materiellen Werten.

Neben seiner «brotberuflichen» Tätigkeit, sein Atelier hatte er zunächst in Windisch, dann in einer alten Schreinerei in Hausen, bildete sich Helbling zeichnerisch und in malerischer Hinsicht weiter: angeregt durch Maler wie Heinrich Danioth, Kurt Hügin, Eugen Maurer und Otto Kälin zeichnete er sehr viel, eignete er sich verschiedene Techniken an, die er später in seinen Werken immer wieder anwenden sollte, zum Beispiel Sgrafitto, Naturstein- und Majolikamosaik, Holzschnitt, Wand- und Glasmalerei. Schliesslich trat er mit der Darstellung des Kreuzwegs in der katholischen Kirche Aarau 1945 zum ersten Mal als Künstler an die Öffentlichkeit.

In diese Zeit der beruflichen Betätigung als freier Grafiker und als Maler fällt ein mehrmonatiger Aufenthalt in Florenz, der seinen Abschluss in der ersten Alleinausstellung Helblings 1951 in Aarau fand, die in finanzieller Hinsicht allerdings ein Fiasko war: Der Maler Helbling verkaufte kein einziges Bild. Daraus abzuleiten, Helblings Schaffen sei ohne Echo geblieben, ist falsch, denn bei verschiedenen Wettbewerben erhielten seine Arbeiten Auszeichnungen und Preise. Aber erst zwanzig Jahre später, 1971 in Brugg, sollte es wieder zu einer Einzelausstellung kommen.

Dazwischen liegen die Jahre des Aufbaus und der Entfaltung, und dies in jeder Hinsicht: in familiärer (Heirat, 3 Kinder), in wirtschaftlicher und in künstlerischer. In diesen Jahren ist Helbling der Oeffentlichkeit aufgefallen zunächst durch das, was man später «Kunst am Bau» nannte. Das Verzeichnis der Werke an Öffentlichen Gebäuden in den Jahren zwischen 1951 und 1971, Jahren des allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs und der Prosperität, umfasst gegen 50 Arbeiten in verschiedener Technik, Wandmalereien, Kirchenfenster, Natursteinmosaik, Sgraffitti. 1958 zum Beispiel erhielt Willi Helbling den Auftrag, die schmalseitige Fensterwand in der neuen Leichenhalle von Brugg zu gestalten. Über die einzelnen, hochrechteckigen Felder zog Helbling etwa in der Mitte ein breites, violettes, wellenförmiges Band, und auf diesem Band stellte er in der Art der alten Bauernmalerei ländlich-herbstliche Ernteszenen dar: ein Bauer, blaue Hose, gelber Strohhut, beim Pflücken von leuchtend roten Früchten; ein abgeerntetes Feld, darauf die schweren, schwarz-gelben Ähren zu Garben gebündelt, von rechts, Bäuerinnen und Bauer mit Wagen und Zugochse. Alles atmet das reiche, volle Leben, aber der Engel, der über dem beschriebenen Bild angeordnet ist, abwartender Blick nach oben, Trompete in der Hand, zeigt an, dass dies alles Leben auf Abruf ist. Keine düstere Todessymbolik, sondern die lebensvolle Darstellung des uralten Gedankens, dass der Tod ins volle Leben greift und allgegenwaertig ist, dass Leben ernten und geerntet werden ist.

In der Glasmalerei hat Helbling sein zweites grosses Thema, neben Natur- und Landschaftsmalerei in Zeichnungen und Bildern, gefunden: die religiös durchwirkte Darstellung des Lebens. Und so wie sich in den Acrylbildern Elemente der Glasmaltechnik nachweisen lassen, so finden sich in den Blumenbildern Helblings religiöse Momente; Malerei und angewandte Kunst verhalten sich komplementär zueinander.

Durch verschiedene grössere Ausstellungen und durch die Ausführung einer eindrucksvoll grossen Zahl öffentlicher Aufträge ist Willi Helbling in den letzten zehn Jahren weit über die Region Brugg/Baden hinaus bekannt geworden. In seinem mit jedem Kind auch aeusserlich «wachsenden» Haus am Stadtrand von Brugg lebend, unterstützt von seiner Frau, Sachwalterin des künstlerischen und grafischen Werkes, schafft Willi Helbling kontinuierlich Werk um Werk, Zeichnung, Acryl-Bild, Glasfenster; seine Themen und Motive immer aufs neue variierend. Neben der Lust, Altem durch neue Formen auch Neues abzugewinnen («So habe ich diesen Rittersporn noch nie gesehen!»), fallen Fleiss und Beharrlichkeit auf, mit der Helbling am Werk ist. Sein Arbeitsstil hat nichts Hektisches an sich, sondern etwas Planvolles, Bewusstes. Sicht man ihn im Atelier, so spürt man, dass da einer an der Arbeit ist, der sein Handwerk kennt, der seine Hilfsmittel gekonnt einsetzt, und der weiss, dass Geduld ein wesentliches Element des schöpferischen Prozess ist.

Man wird im Werk Willi Helblings die Vision des Malers nicht von der des angewandten Künstlers und Grafikers trennen können, sein bis jetzt überblickbares Werk ist unter verschiedenen Aspekten eine konstante Einheit. Die Ausdrucksmittel des Malers und Glasfensterbildners stehen sich nicht fremd gegenüber, im inhaltlichen wie im technisch-stilistischen Bereich sind wechselseitige Einflüsse nachweisbar; beide «Medien» dienen einem besseren Verständnis der Wirklichkeit; beide – gelbe Gaillardien in Acryl gemalt oder eine Heiligendarstellung in Schwarzlotumrandung – vertreten den gleichen Standpunkt. Die im wesentlichen grafische Art des Sehens, wie sie Helbling eigen ist dient dazu, die nicht fassbare Bewegung der Wirklichkeit der Vision anzugleichen. Dadurch, kann ihre Substanz erfasst und deren Sinn erkannt werden; und dieser Sinn heisst Ordnung, «Charakter» der Schöpfung. Darauf ist das Werk Helblings aus: «Charakter» von Natur und Welt die Ordnung der Dinge durch Gott aufzuzeigen. Das ist, wenn man will, die Weltanschauung des Malers.

Schon beim, ersten Blick fallen die erwähnten Übereinstimmungen und Konstanten im Werk Helblings auf: an den Blumenbildern, den Petuniendarstellungen der jüngsten Zeit zum Beispiel, bemerkt man sofort die leuchtenden Farben; nicht mehr so sehr das Motiv ist wichtig, sondern die Zusamenstellung der Farben, der Rythmus der Farbflächen und die Ordnung innerhalb der einzelnen Blüte. Selbst im kleinen Format ist Helblings Neigung zur Wandmalerei erkennbar, zur grossflächigen Arbeit die ihm besonders von Danioth nahegebracht wurde und die vor allem in den Sgraffiti und in der Glasmalerei zum Zug kommt. Auch hier, in den 1983 fertig gestellten Kirchenfenster von Huttwil zum Beispiel, finden sich diese leuchtenden, lebendigen Farbflächen: rot, gruen, weiss, Wolkenlandschaften und fruchtbare Felder. Und wie in den Glasfenstern die farbigen Flächen hart aneinandergesetzt sind und wie da aus wenigen Farben viele Abstufungen herausgeholt werden – helles Grün über Sattgrün bis zu Blaugrün und Blau, Schwefelgelb, Goldgelb und Braungelb- so geschieht das auch in den Acrylbildern. Auch da fällt die unvermittelte Aneinandersetzung farbiger Flächen auf; sie wirken trotz Farbmischung intensiv wie Glasfenster. Ob in den Fenstern oder in den Bildern: hier wie dort gibt es gross angelegte Farbballungen, deren Komposition den Bildraum ausmacht. Liest man die Bilder oder die Fenster, so beginnt eine Farbe nach der andern zu leuchten, wahre Farbakkorde entstehen; es entsteht Licht. Und weil häufig harmonische Farbabstimmungen die Bilder zum Leuchten bringen, möchte man diese Kunstwerke oft auch schön nennen.

Das künstlerische Werk Helblings erstreckt sich über eine Zeitdauer von dreissig Jahren; viel ist entstanden, vieles gelungen, vieles natürlich nicht. Gibt es eine Entwicklung? Helblings Kunst ist gegenständlicher Art, die sich der Abstraktion bedient, um nach dem Grundmuster des Gegenstandes zu suchen. Auf eine kurze Formel gebracht: Helblings Kunst bewegt sich zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktheit, beides existiert neben- und ineinander, das eine drängt das andere zeitweise zurück, doch schwierig ist es, eine Entwicklungslinie zu erkennen. Mir scheint dennoch, sein Werk befinde sich auf dem Weg zunehmender Abstraktion, die Glasmalerei mehr als der andere Flügel seines Werks. Um das Gemeinte zu verdeutlichen: Während die Glasfenster in der katholischen Kirche von Eiken, 1965 geschaffen, figürliche Darstellungen enthalten, ihre Themen narrativ umsetzen und sogar die bäuerliche Umwelt des Fricktals miteinbeziehen, wirken die jüngst in Huttwil geschaffene Kirchenfenster abstrakt, ein rhythmisches Spiel von Farbe, Form, Fläche und Licht, Aber weniger deutlich ist die Entwicklung in der Malerei zu erkennen, die Gleichzeitigkeit konkreter und abstrakter Darstellung ist vor allem in der Landschaftsmalerei sichtbar. Da finden sich Bilder, die geographisch genau situierbar sind und die in der Strichfuehrung an Bilder und Skizzen erinnern, die Helbling 1951 aus Italien mitgebracht hat neben solchen, die abstrakt, konstruktivistisch anmuten wie etwa das Bild «Auwald im Herbst» von 1983, Trotz dieses Nebeneinanders kann man den Eindruck gewinnen, als würden sich in den Bildern Helblings die abstrakten Bildelemente den konkreten Bildmotiven gegenüber durchsetzen; lasierende, rhythmisch gegliederte Farbflächen überspielen oft den Bildgegenstand – beispielhaft dafür ist das Acrylbild «Ritterspornmelodie» von 1982. Eine prinzipielle Hinwendung zum Allgemeinen, zum Typischen, zum Formalen? Der Gegenstand als Anlass für die Vergegenwärtigung dessen, worauf er zeigt? Für seinen «Charakter»? In den Gesprächen mit Paul Gsell äusserte sich Rodin folgendermassen: «So ist denn In der Kunst einzig und allein das schön, was <Charakter> hat. <Charakter> heisst die grosse innere Wahrheit eines jeden schönen oder hässlichen Naturschauspiels. Ja, hier könnte man sogar von einer doppelten Wahrheit sprechen, denn, es handelt sich um eine innere, die durch eine äussere zum Ausdruck gebracht wird. Seele, Gefühle, Ideen gelangen durch Gesichtszüge, Gebärden und Handlungen eines Menschen, durch die Färbungen des Himmels, die Linie eines Horizontes zum Ausdruck. Dem grossen Künstler verrät also in der Natur alles einen Charakter: denn die unerbittliche Schärfe seiner Beobachtung dringt in den geheimsten Sinn der Dinge. » Indem der Maler Willi Helbling auf dem Weg zunehmender Abstraktion dem Betrachter die Ordnung der Dinge enthüllt, ohne die Oberfläche der Dinge zu vernachlässigen, zeigt er denen, die seine Bildsprache zu lesen vermögen, das Spiel von Vorder- und Hintergrund verstehen, die «doppelte Wahrheit» der Welt, den «Charakter» der Dinge, das innere Wesen von Blume, Tier und Landschaft. Helblings Kunst leistet dies auf eine stille Art, sie wirkt verhalten, verzichtet auf alle Grade des Dramatischen, verlässt sich auf die Kraft des Lichts, das das die Farben verströmen.

in: Brugger Neujahrsblaetter, 1984